Ein wenig verwirrt über den plötzlichen Wechsel ihrer Mentorin war Lena schon, als sie Cylia nach oben in die erste Ebene folgte, aber sie war sich auch sicher, dass Idis sie nicht ohne Grund in die Obhut einer anderen übergab. Oben angekommen holte Cylia einen Rucksack aus bunten Federn hervor und gab ihn Lena.

„Dieser Raum ist voller Bilder, die jedoch nicht leicht zu sehen sind. Aber du wirst sie schon finden“, sagte Cylia und lächelte gelangweilt. „Lena, du machst das einfach und später zeigst du mir, was du entdeckt hast. Ich gehe solange zum Friseur. Solltest du früher fertig sein, dann gehe einfach durch diese Tür dort drüben, denn es erwartet dich da deine nächste Aufgabe. Ach ja, sie ist selbsterklärend, du wirst schon sehen.“ Kaum hatte Cylia fertig gesprochen, ging sie wieder und verschwand die Treppe hinunter. Lena hingegen versuchte, die mysteriöse Bilder-Aufgabe zu verstehen. Und Idis, die aus der Ferne alles beobachten konnte, wurde ärgerlich. „Na toll, Cylia, eine Schülerin muss doch betreut werden! Aber naja, dann kannst du wenigstens keinen Schaden anrichten. Vielleicht denkt sie ja, sie kann die schnelle Methode tatsächlich im Schnellverfahren anwenden, und wenn sie zurückkommt, die Etappe so gut wie beendet ist? Oder hat sie sich möglicherweise Lena ausgesucht, weil sie mitbekommen hatte, dass Lena so talentiert ist?“ Idis wusste es nicht. Sie würde die Sache jedoch weiterhin beobachten und Papili würde seiner Lena hoffentlich gut zur Seite stehen.

Diese stand nun allein im Raum des großen Schatzes. „Was soll ich denn jetzt genau tun? Bilder, die nicht leicht zu sehen sind, hat Cylia gesagt“, überlegte Lena angestrengt. „Aber, was soll ich denn jetzt damit tun? Und wozu überhaupt der Rucksack? Schon seltsam, diese Cylia. Wieso das Idis überhaupt zugelassen hat, verstehe ich nicht…“ Lenas Gedanken waren schon wieder woanders, nur nicht bei der Aufgabe, doch da flatterte Papili von ihrer Schulter und holte ein kleines Lichtstaubkorn aus der vor ihnen liegenden Wand hervor.

„Lichtstaub!“, dachte Lena, „Papili! Was willst du mir denn damit zeigen?“ Papili kam herüber geflattert und legte das Lichtstaubkorn in Lenas Rucksack.

„Ah! Ich soll Dinge in meinen Rucksack legen? Gut!“, sagte sie. „Aber was nur?“ Lena schaute sich suchend um. Da entdeckte sie plötzlich vor sich im Raum ihr erstes Kuscheltier, das sie mit 3 Jahren von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte und welches sie immer überall mitgeschleift hatte. Es schwebte vor ihr und schaute ihr direkt in die Augen.

„Wo ist es eigentlich die ganzen Jahre über geblieben?“, fragte sie sich da.

Lena fiel es nicht mehr ein, aber sie spürte ein Gefühl der Nostalgie und sehnte sich danach, es wieder zu finden. „Womöglich hat Mutter es weggeworfen“, dachte sie und spürte einen leichten Schmerz in ihrem Herzen.

Nun bemerkte sie, dass Papili aufgeregt um das Kuscheltier in der Luft herumflatterte und da verstand sie was zu tun war. Sie nahm es und packte es in den Federrucksack.

Dann erschien plötzlich auf dem Fußboden vor ihr wieder eine Frage, so wie unten im großen Spiegel und sie dachte, „Dies ist nicht der Palast der Vergangenheit, sondern der Palast der vielen Fragen!“

Die Frage vor ihr auf dem Boden lautete: „Gab es in deinem Leben Dinge, auf die du stolz warst und auch heute noch bist?“

„Na klar“, dachte Lena sofort und ihr fielen wirklich viele Dinge ein. „Ich habe in Ballettaufführungen mitgetanzt, habe vorgesungen, hatte immer sehr gute Noten in der Schule, habe einen tollen Job, der mir viel Geld bringt, habe…“

„Falsche Antwort!“, erschien es da in Großbuchstaben auf dem Boden und gleich darauf wieder in normaler Schrift, „Gab es in deinem Leben Dinge, auf die du wirklich stolz warst und bist?“

„Wie?“, dachte Lena irritiert, „Waren das nicht die richtigen Dinge?“ Und sie dachte noch einmal ganz genau nach. „Worauf könnte ich denn noch stolz sein?“

Und da flatterte Papili vor ihre Nase und zirpte leise… „Papili!“, fiel es ihr da plötzlich ein. „Ja, auf Papili bin ich stolz. Sehr stolz!“ Ihr fielen auch noch weitere Dinge ein. „Ich bin stolz darauf, dass ich mich als kleines Mädchen in mein Herz versteckt habe, denn nur so gibt es Papili ja überhaupt!“ Da spürte sie, wie eine Welle der Befreiung durch ihren ganzen Körper strömte. „Ja! Dieses Gefühl des Kleinseins, welches der Grund dafür war, warum ich nie Nein sagen konnte! Jetzt ist es verschwunden! Und nicht ich war klein, sondern Papili in mir war klein, aber Papili soll ja genau so klein sein, wie es ist!“ Und sie fühlte, dass das kleine Papili-Gefühl plötzlich seine Flügel ausbreitete und zu einem mächtigen stolzen und großen Papili-Gefühl wurde. Und da sah sie, wie sich Papili selbstbewusst vor sie auf das Treppengeländer setzte und demonstrativ seine kleine Brust nach vorne wölbte.

„Papili, ich bin so froh, dass du da bist! Du bist mein ganzer Stolz!“, rief Lena voller Freude und hätte Papili am liebsten gegen ihre Brust gedrückt, doch da es so klein war, tat sie es nicht und streichelte es nur liebevoll mit ihrem kleinen Finger über seinen Kopf.

„Piep!“, machte Papili da fröhlich und fühlte sich durch und durch geliebt. Und auch Lena fühlte sich geliebt und strahlte über das ganze Gesicht.

Da erschien eine weitere Frage auf dem Boden: „Gab es Dinge, für die du bestraft wurdest, auch wenn du sie gerne getan hast?“

Lena überlegte. „Ja, ich erinnere mich, dass ich zwar nicht direkt bestraft worden bin, aber da gab es Dinge, die ich gerne getan habe, die mir aber ausgeredet wurden. Zum Beispiel wollte ich doch diesen Statistik-Kurs in der Oberstufe nicht belegen, sondern Literatur“, dachte Lena sehnsüchtig und erzählte weiter. „Da Vater aber von Literatur nichts hielt, schrieb ich mich in den Statistik-Kurs ein. So gerne hätte ich mehr über das Schreiben gelernt, aber Vater hatte wahrscheinlich recht, wenn er sagte, dass ich davon niemals würde leben können … Irgendwann vergaß ich den Literaturkurs und naja, lernte dann eben für Statistik, um später Mathe studieren zu können … Obwohl ich ja dann doch nicht genommen wurde und schließlich in dieser so fordernden Business-School landete.“

Auch erinnerte sie sich daran, dass sie als Kind einmal ihren Eltern ein Bild gemalt hatte, welches aus Fantasiewesen bestand. Da sie aber nicht erklären konnte, was dies für Wesen waren, zerriss der Vater das Bild mit den Worten, „Was du nicht erklären kannst, gibt es nicht. Nächstes Mal malst du etwas Richtiges!“

Diese Erinnerung machte Lena immer noch traurig, aber auch etwas wütend. „Wie kann jemand nur so etwas sagen? Und es stimmt noch nicht einmal! Denn es gibt die Klabuwees und Mela… Alles Wesen, die bestimmt nicht in der realen Welt vorkommen!“

Und in diesem Moment erschien das Bild mit den Fantasiewesen wieder. Es schwebte vor Lena im Raum und war nicht zerrissen. Sie nahm es und schaute es an. „Das… das sind doch lauter Klabuwees auf dem Bild!“, rief sie voller Erstaunen. Und sie schaute noch einmal genauer hin, aber nein, es waren wirklich ganz viele Klabuwees. Alle ganz bunt, manche sahen traurig, andere wiederum ärgerlich und andere auch glücklich aus. Unter dem Bild stand in ihrer kindlichen Handschrift “Für Mama und Papa” Und ein großes Herz war auch dazu gemalt.

Lena fühlte ihre ganze damalige Enttäuschung wieder in sich aufsteigen, aber sie hatte ja nun gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen und fragte Enttäuschung, „Enttäuschung, was brauchst du?“

Und Enttäuschung antwortete, „Ich brauche, dass du mich lieb hast. Und ich brauche, dass du sagst, dass ich Fantasiewesen malen darf!“

„Ja, liebes Enttäuschungsklabuwee, das darfst du!“, bestätigte Lena, „Du darfst so viele Fantasiewesen malen, wie du magst und ich hänge sie alle für dich auf!“ Und dann fragte sie, „Wie fühlst du dich denn nun?“

Enttäuschung antwortete: „Jetzt fühle ich mich gesehen“, und das kleine Klabuwee veränderte sich langsam zu einem Glücksklabuwee.

Da fühlte Lena, wie plötzlich etwas in ihre Hand flog. Es war GWoft, der Gedankenwolkenstift! Nur – dieser GWoft konnte Bilder malen. Und er malte viele Fantasiewesen in die Luft, die zwar langsam wieder verschwammen, und schließlich verschwanden, aber Lena erfuhr das Gefühl des Malens und das kleine Glücksklabuwee hüpfte freudig in der Gegend herum und machte Luftpurzelbäume vor Lena und ihrem Küken.

Als letztes erschien auf dem Boden die Frage: „Lena, in welchen Situationen begannen deine Augen immer zu leuchten?“

Lena wusste nicht so recht, was sie sagen sollte, und schaute Papili  fragend an. „Was sagst du, Papili, kannst du mir bei dieser Frage helfen? Ich weiß gar nicht genau, wann meine  Augen immer zu leuchten begannen …“

Doch noch bevor Papili ihr antworten konnte, erschien plötzlich eine Wolkenschrift mitten im Raum. . “Ideen geben” stand dort in allen Regenbogenfarben

„Ideen geben?“, fragte Lena, aber nach kurzem Überlegen stellte sie fest, dass genau das auf sie zutraf. „Ja, das stimmt, das ist etwas, das ich immer geliebt habe!“ Und ihr fiel ein, dass sie aufgrund ihrer Ideen auch den Job als Abteilungsleiterin bekommen hatte. Ja, Ideen geben war ihr Ding. Dass sie darauf nicht früher gekommen war …!

Lena pflückte die Buchstaben aus der Luft und gab sie einen nach dem anderen in ihren Rucksack.

Dann kamen keine Fragen mehr.

„Was machen wir denn jetzt?“ Lena schaute Papili ratsuchend an. 

Das kleine Küken schaute auffordern zu der Tür, die Cylia zuvor erwähnt hatte, und Lena nickte. „Gut, das hatte ich fast vergessen. Dann lass und da jetzt reingehen! Ich bin schon gespannt, was uns dort erwartet!“

Zu Kapitel 32 >>

Deine Anna
...die macht, dass du dich zeigen willst.

 

----

Anna Breitenöder
Personal Branding Expertin & Sehendmacherin