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Vorhin, als Lena zur Tür hereinkam, hatte Papili, das kleine Vogelküken, schon ein so seltsames Gefühl in der Herzgegend gespürt. Aber nun klopfte sein Herz so sehr, dass Papili glaubte, es spränge jede Sekunde aus seiner Brust heraus. Auch spürte das kleine Küken, wie sich Tränen der Erleichterung den Weg durch seine Kehle und seine Augen herauf bahnten. Lena, ja, da war seine Lena, die es die ganzen Jahre über gerufen hatte! Und es wollte nur noch zu ihr fliegen und ihr sagen, dass es ihr Vogelküken Papili war!

Aber es hatte große Angst, dass Lena wieder gehen würde. Und Idis hatte ihm gesagt, es solle geduldig sein, wenn Lena je einmal in das Waldhaus treten sollte. Denn Lena musste von selbst kommen und es annehmen.

Und so hatte Papili einerseits Angst davor, dass es etwas falsch machen würde und andererseits, dass Lena wieder ging, weil sie es nicht mögen würde. Und dabei wollte es doch so sehr zu Lena. Dieses Gefühlsdurcheinander hielt es nach einer kurzen Weile einfach nicht mehr aus!

Da fiel es plötzlich in Ohnmacht und stürzte vom Regal. Idis, die soeben zwei Tassen vom Regal geholt hatte, war zum Glück gerade rechtzeitig zur Stelle. Sie fing Papili in ihrer bunten Schürze auf. Lena jedoch schaute gerade verträumt in dem kleinen Waldhaus umher und wunderte sich, wieso dieses durch Kerzen erleuchtet werden musste. Von Papilis Absturz hatte sie nichts bemerkt.

Nun fiel ihr auch auf, dass das Haus gar keine Fenster hatte. Das Licht kam ausschließlich von den unzähligen Kerzen, die unregelmäßig im Raum verteilt waren. Verschiedene Vögel flogen mit frischen Kerzen im Schnabel durch die Luft, und sobald irgendwo eine Kerze ausgegangen war, brachte ein Vogel eine neue und ein anderer entfachte die Flamme durch einen kleinen Lufthauch.

„Seltsam“, dachte Lena, „Kerzen können in dieser Weise ausgeblasen werden, aber doch nicht angezündet … Wie schaffen diese Vögel das bloß?“

„Die Vögel, die du hier siehst, sind alles Vögel aus einsamen, verlassenen Herzen“, erklärte Idis. „Sie haben sich als kleine Mädchen voller Angst in ihren Herzen versteckt, sich in kleine Vogelküken verwandelt und trauten sich seither nicht mehr, herauszufliegen, weil ihnen die Welt da draußen rau und schlecht vorkam. Ich bin hier, um auf sie aufzupassen, bis ihre Frauen, erwachsene, oftmals äußerlich sehr erfolgreiche Frauen, durch gewisse Umstände den Weg in das Haus ihres Vogelkükens finden und kommen, um es abzuholen. Natürlich gibt es auch Vogelküken, die niemals wieder abgeholt werden. Das liegt daran, dass diese Frauen sich nie besinnen, und so, selbst wenn sie alt werden, nie den Weg zurück zu ihrem Vogelküken finden. Das sind dann die verlorenen Küken und ich sorge für sie, so gut ich kann. Zum Glück kommen aber auch immer wieder Frauen hierher, um ihre Vogelküken abzuholen.“ Idis machte eine Pause und schaute Lena erwartungsvoll an.

„Ach, du wunderst dich sicherlich, dass die Vögel die Kerzen einfach so entfachen können?“, fragte Idis, als sie Lenas irritierten Blick bemerkte.

„Ja“, Lena nickte.

„Du musst wissen, dass sie das Lebenslicht in sich tragen. Sie können alles erhellen“, erklärte Idis.

„Die Frauen, die ihre Vogelküken verloren haben und nicht mehr finden, werden oft nach einer gewissen Zeit ihres Lebens krank oder sehr traurig. Ihnen fehlt einfach das Lebenslicht ihres Vogelkükens.“ Idis schaute nun etwas ratlos, denn sie konnte ja solange nichts machen, bis die Frauen von sich aus zu ihrem Vogelhaus kamen.

Lena hörte der weisen Frau wie gebannt zu. „Könnte es denn sein, dass auch ich ein solches Vogelküken habe?“, dachte sie. „Eins, welches sehnsüchtig darauf wartet, endlich von mir abgeholt zu werden? Und könnte es womöglich sein, dass meine Krankheit etwas damit zu tun hat?“

Aber dann schüttelte sie den Kopf und sagte sich innerlich: “Aber was soll denn das, ein Vogelküken, so etwas Lächerliches!“

Trotzdem machte sich in Lena langsam ein mulmiges Gefühl breit, das sie nicht näher lokalisieren konnte. Als sie aus ihren Gedanken aufsah, war ihr, als sähe sie direkt in das Gesicht eines Vogels. Doch dann verschwand dieses Gesicht wieder und vor ihr stand Idis, die weise Frau, mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.

 

„Dein Vogelküken trägt deinen Lebensplan in sich“, sagte sie. „Die Küken, die nie von ihren Frauen abgeholt werden, tragen für immer und ewig deren unerfüllten Lebensplan in sich. Sie sind wie Samen, die nie zu Blumen werden. Und ihre Frauen werden nie ihr volles Potenzial ausleben können, sie erblühen einfach nicht und leben ein verschlossenes, roboterähnliches Leben in einer für sie erkalteten Welt.“

 

Idis schaute Lena durchdringend an.

Lena verspürte plötzlich dieses ihr mittlerweile so wohlbekannte Gefühl der Sehnsucht nach … sie konnte es immer noch nicht benennen, was es war.

„Vielleicht“, dachte sie, „möchte ich ja meinen Lebensplan finden? Aber dazu müsste ich mein Küken befreien.“ Lena schaute Idis  eine Weile zweifelnd an. Dann erst sagte sie laut, „Aber wie soll ich das bloß anstellen?“

Idis lächelte. „Es reicht deine Entscheidung.“

Lena fühlte sich plötzlich völlig überfordert.

„Ich verstehe das nicht!“, rief sie plötzlich. „Ich will das doch alles gar nicht! Ach, ich möchte doch einfach nur wieder gesund werden, dann kann ich wieder zurück in meine Firma und meine Karriere verfolgen. Ich habe ja immerhin so hart dafür gearbeitet, dass ich so weit gekommen bin!“ Lena war richtig wütend geworden und hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst, denn irgendwie war ihr das Ganze unheimlich.

„Was ist das hier bloß? Das Haus, die Vögel, die Kerzen, die verschlossenen Fenster?“

Idis schaute Lena mitfühlend an, sagte aber nichts.

„Andererseits, wenn das wirklich wahr ist, dann …“ Lena wagte gar nicht, weiterzudenken, denn plötzlich wurde sie mit Gedanken daran überflutet, dass sie früher so gut gezeichnet und Geschichten geschrieben hatte. Bis dann die Zeit der Oberstufe und des Studiums kam. Die Eltern hatten ja recht, es war wichtig, einen guten Job zu haben, Sicherheit ging eben über alles.

„Aber …“, Lenas Gedanken machten inzwischen Purzelbäume in ihrem Kopf, und kamen dann ganz plötzlich zu einem Ergebnis.

„Nein, ich habe es schon richtig gemacht“, sagte sie sich selbst. Doch dann kamen ihr ein weiteres Mal Zweifel und sie dachte: „Wenn da nur diese quälende Sehnsucht nicht wäre!“

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Anna Breitenöder,
Brand Empoweress

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